Old monk in Samey, Dagana - www.markuswild.ch |
«Ich weiss es nicht», antwortete Tin Win leise. «Vor der Stille der Nacht. Vor den Stimmen des Tages. Vor dem fetten Käfer, der durch meine Träume kriecht und an mir nagt, bis ich aufwache. Vor Baumstümpfen, auf denen ich sitze und von denen ich falle, ohne je irgendwo aufzuschlagen. Und vor der Angst. Manchmal habe ich einfach nur Angst vor der Angst und kann mich dagegen nicht wehren. Sie ist stärker als ich.»
U May strich ihm mit beiden Händen über die Wangen.
«Jeder Mensch, jede Kreatur hat Angst. Sie umgibt uns, wie die Fliegen den Misthaufen des Ochsen. Tiere schlägt sie in die Flucht, sie reissen aus und rennen oder fliegen oder schwimmen, bis sie sich in Sicherheit wähnen oder vor Erschöpfung tot umfallen. Wir Menschen sind nicht wirklich klüger. Wir ahnen, dass es auf der Welt keinen Ort gibt, wo wir uns vor der Angst verstecken können, und trotzdem versuchen wir es. Wir streben nach Reichtum und Macht. Wir geben uns der Illusion hin, stärker zu sein als die Angst. Wir versuchen zu herrschen. Über unsere Kinder und unsere Frauen, über unsere Nachbarn und Freunde. Herrschsucht und Angst haben etwas gemein: Sie kennen keine Grenzen. Aber mit der Macht und dem Reichtum ist es wie mit dem Opium, das ich in meiner Jugend mehr als einmal probierte. Beide halten ihr Versprechen nicht. Das Opium brachte mir nicht das ewige Glück, es verlangte nur nach mehr. Geld und Macht besiegen die Angst nicht. Es gibt nur eine Kraft, die stärker ist als die Angst. Die Liebe.»”
Aus dem Roman «Das Herzenhören» von Jan-Philipp Sendker
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